Kaorle Figur

Das Sternenversteck und andere Geschichten

»Ich baue mein Haus in die Lücken deiner Vorstellungskraft.« Enis Maci, Eiscafé Europa
Eugénie Desmedt (https://eugenie.at/work/) · 2025-09
Titelbild für Das Sternenversteck und andere Geschichten

Als ich klein war, habe ich viele Bücher über Kinder gelesen, die an verlassenen Plätzen leben, alte Kinos oder Inseln oder Ruinen oder einfach im Wald. Das waren Orte, die niemandem wichtig waren, niemandem weggenommen wurden, die niemandem gehören, nicht am Papier und nicht in Realität. In der deutschsprachigen Kinderliteratur erzählen viele Geschichten von Kindergruppen, die sich an solchen Zufluchtsorten von der Welt der Erwachsenen abgrenzen. In Momo ist es Momo, die in einem alten Amphitheater einen Ort für wilde Kinderspiele und zum Zuhören schafft. In Die Rote Zora und ihre Bande sind es die „Uskoken“, die in einer verlassenen Burg am Meer leben und für einander sorgen. Und in Herr der Diebe sind es die Brüder Prosper und Bo, die nach dem Tod ihrer Mutter nach Venedig fliehen und dort von den Waisenkindern Wespe, Mosca und Riccio in einem verlassenen Kino aufgenommen werden. Das Kino nennen sie das Sternenversteck.

Sich selbst organisierende Kindergruppen sind besonders in der deutschen Nachkriegsliteratur als Motiv häufig verwendet worden. Neben dem soziopolitischen Setting, in dem Waisenkinder nicht selten waren, reflektierte dieses Motiv auch den Wunsch nach Geborgenheit und fiktionalisierte die menschliche und vor allem kindliche Fähigkeit, sich Orte zu schaffen, an denen diese möglich ist. Kristen Boie, selbst Kinderbuchautorin, schreibt über Die Rote Zora und ihre Bande: “Ganz sicher geht es uns LeserInnen auch um die ganze Kinderbande […], die zwar immerzu gegen die Regeln der Gesellschaft verstößt, […] und die alles teilt; in der alle solidarisch sind und einander helfen – selbst wenn sie aufeinander eifersüchtig sind, einander nicht mögen. Zu so einer Gruppe von Freunden gegen den Rest der Welt würden wir alle vielleicht auch gerne gehören.“

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Die Räumung

Die Idee von Räumen, die Zugehörigkeit ermöglichen, ist damals wie heute untrennbar mit der ihrer Grenzen verbunden. Ein Ort wird heimelig, wenn er eine Tür hat, die man schließen kann, wenn einem das Fremde draußen zu viel wird - wenn er auf gewisse Weise, faktisch oder emotional, als Refugium vor der Welt fungieren kann. Das gilt auch, und vielleicht vor allem, für Räume, die sich prinzipiell offen und zugänglich gestalten und in ihrer Funktionsweise auch so agieren. Denn die Grenze bringt mit sich eine Aufteilung in ein Innen und Außen, wobei die Gemeinschaft das Innere ist, das sich oft genau durch diesen Umkehrschluss definiert. Mehr als was wir sein wollen, wissen wir, was wir alles nicht sein wollen. Insofern machen die physischen und symbolischen Grenzen das Sicherheitsgefühl in einem gemeinsamen Raum erst möglich.

Eine Grenze dabei ist keine starre Linie, sondern eine Verhandlung. In den letzten Kapiteln von Herr der Diebe wird das besonders deutlich, denn da geht die Zeit der Kinder im Sternenversteck zu Ende. Die Polizei war dort, die Schlafsäcke, Bücher und Radios sind geräumt, die Fenster zugenagelt. In diesem kurzen grenzenlosen Moment sind das Außen und das Innen nicht mehr klar definiert und die symbolische Grenze, die die Welt der Kinder von der Welt der Erwachsenen getrennt hat, verschwindet.

So kommt es, dass am Ende des Buches die Brüder Prosper und Bo mit dem Detektiv und Ida Spavento, den ursprünglichen Antagonisten des Buches, auf dem Teppich in Idas Wohnzimmer sitzen. Nur wenige Kapitel davor zielt Ida noch mit einer Jagdflinte auf die Kinder. Aber seitdem haben sie gemeinsam Karten gespielt und Falschgeld gezählt, und Bo hat sich zu Ida hinüberbeugt und über seinen älteren Bruder geflüstert: “Der will auch hier bleiben. Aber er traut sich nicht, dich zu fragen.” Prosper und Bo werden adoptiert, gemeinsam mit Wespe, sie gehen jetzt in die Schule. Diese Verschmelzung zwischen den beiden Welten ist Auflösung und Erleichterung, auch weil sie Prosper erlaubt, in seiner Sorge um Bo nicht mehr selbst “erwachsen” sein zu müssen. Das Fremde war insofern immer ein Teil der Gemeinschaft und ihres Selbstverständnisses, aber erst die Auflösung des Raumes macht diese Dynamik sichtbar.

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Das magische Karussell

Doch nicht für alle Figuren bringt das Verschwinden der Grenzen diese Erleichterung. Neben Prosper und Bo ist Scipio, der Herr der Diebe selbst, die zentrale Figur in der Geschichte. Scipio ist hochmütig, trotzig, trägt hohe Schuhe und eine Pestmaske. Dass er die Gemeinsamkeit der Gruppe genau so braucht wie die anderen Kinder gesteht er weder sich noch ihnen ein. Als das Sternenversteck sich auflöst und die Kinder herausfinden, dass Scipio nicht wie gedacht selbst Waise, Vagabund und Meisterdieb ist, sondern in Wahrheit auch nur ein Kind, das von seinem reichen Vater Zuckerzangen stielt, verzeihen sie ihm nicht. “Mit ‘wir’ ist es vorbei,” sagt Mosca ihm dann. “Du gehörst nicht zu uns, du hast nie zu uns gehört, auch wenn du so getan hast.”

Scipio taucht erst gegen Ende des Buches wieder auf, als hochgewachsener Fremder. Wo Prosper und Bo die Dichotomie zwischen Kinderwelt und Erwachsenenwelt auflösen, indem sie sich in die Erwachsenenwelt integrieren, widersetzt sich Scipio dieser Entscheidung. Stattdessen springt er auf ein magisches Karussell, das ihn selbst zum Erwachsenen macht. Die titelgebende Figur des Buches zieht also nicht in das nach Lavendel duftende Haus. Stattdessen eignet er sich die Macht dessen an, was er immer als sein Feindbild gesehen hat. Er wohnt jetzt bei sich, und setzt sich damit über die zentrale Fragestellung des Buches schlicht hinweg.

Wie wohl viele Kinder, habe ich mich trotz seiner nicht immer liebenswürdigen Art durchaus mit Scipio identifiziert. Er steht für den Wunsch nach Unabhängigkeit, Gemeinschaft, und für den Kraftakt, sich selbst ein neues zu Hause zu schaffen. Auch Zora kann man in ihrem Einfluss von Anne of Green Gables bis zu Pippi Langstrumpf nachverfolgen - sie ist ein Symbol für die Unangepasstheit und Widerspenstigkeit einem System gegenüber, in dem man keinen Platz findet. Das ist das Besondere an der Fiktion, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene: sie erlaubt uns, Facetten der eigenen Erfahrung in einen fremden Rahmen zu setzen. Insofern ist die Fiktion selbst ein Raum, den es zu Gestalten und zu Beleben gilt: in ihr werden Utopien gebaut, die das Wechselspiel aus Vertrautem und Fremden an ihren Grenzgebieten erproben.

Auch die Bande der Roten Zora lebt am Ende des Buches nicht mehr in ihrem Geheimversteck. Und trotzdem sitzen in der letzten Szene die Kinder beieinander am Ufer und singen gemeinsam:

“Wenn ein Windstoß sich regt, Wenn die Ebbe vergeht Und ein Aar hoch über uns schreit Dann zu Schiff, dann zu Schiff Und die Segel gerafft Und wir stoßen voll Freude von Land!”

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