Kaorle Figur

Zusammen-nähen

Paulina Sycha · 2024-06-01
Titelbild für Zusammen-nähen

Der Other Market ist ein sich ständig verändernder Ort des Austauschs, eine kollektive Textilwerkstatt, ein Experiment. Kollektives Handwerk und Austausch als eine ortsbildende, architektonische Praxis zu verstehen, ist ein wiederkehrender Gedanke in meiner Arbeit als Designerin. Das Schaffen von Raum für eine gemeinsame Reflexion über alternative Formen des Austauschs und deren räumliche Potenziale prägt meine Herangehensweise an die Gestaltung.

Im Other Market wird das Zusammennähen als Mittel verstanden, gemeinsam Raum zu schaffen. Im Rahmen des Textil-Workshops im März stapelten sich auf den Tischen bei Kollektiv Kaorle Stoffe und Garne, Scheren und Nähmaschinen. Beim kollektiven Handarbeiten liegt der Wert nicht im Ergebnis, sondern im Prozess des Machens. Verschiedene Stücke Stoff lassen sich ebenso leicht zusammenfügen, wie sie sich wieder trennen lassen. Stoff ist ein nachsichtiges Material, das Entscheidungen beim Nähen weniger endgültig und unumkehrbar erscheinen lässt. Es gibt keine Angst vor dem ersten Strich auf der leeren Leinwand. Nähen ist repetitiv. Mit dem Surren der Nähmaschinen, eine Naht nach der anderen, entsteht ein sich wiederholender Rhythmus, der Gedanken und Dialog zulässt – Zusammennähen als eine Form des kollektiven Nachdenkens. Ein Rückblick auf Geschichten des kollektiven Textilhandwerks zeigt, wie eng diese Räume mit politischer und kritischer Auseinandersetzung verwoben sind.

Textilien und das Textilhandwerk sind aufgeladen mit Mehrdeutigkeiten. Sie positionieren sich im Spannungsfeld zwischen Industrie, Kunst und Handwerk, zwischen Emanzipation und Kontrolle. Sie spielen eine zentrale Rolle in der Geschichte des Kapitalismus und ebenso für den organisierten Widerstand. Stoff ist flexibel, dehnbar und voller Textur. Die fließenden Grenzen zwischen den Kategorien und die bloße materielle Beschaffenheit bilden ein Gerüst dafür, zu verstehen, warum textiles Handwerk politisch ist. Textilarbeiten zur Darstellung von Geschichte, zur Identitätsbildung und zum Zeugnis politischer Gewalt sind ein (weiblicher) Ausdruck aktivistischer Partizipation, der in der Kunst- und Kulturgeschichte nationale, politische und zeitliche Grenzen überschreitet. Insbesondere in Regionen, in denen es eine Geschichte der dominanten geschlechtlichen Arbeitsteilung und der Diskriminierung weiblicher (politischer) Partizipationspotenziale gibt, entstehen und entstanden Textilarbeiten als Antwort auf Unterdrückung. Sowohl in der direkten Form von politischen Bannern (Abb.2) und kollektiver Quilt-Herstellung (Abb.3) als auch durch die Textilgeschichte und die soziale Bedeutung, die Stoffe oder Kleidung mit sich bringen, sind Textilarbeiten oft Ausdruck des Protests, der Geschichtserzählung und der Erinnerung (Watson 2012).

In England im frühen neunzehnten Jahrhundert waren es die TextilarbeiterInnen, die eine der ersten ArbeiterInnen-Revolutionen starteten. Geschichtlich als die Luddisten oder der Maschinensturm bezeichnet, zerstörten Arbeiter, zu dieser Zeit wenige Arbeiterinnen, mechanische Webstühle, um gegen die Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zuge der Industrialisierung zu kämpfen (Bryan Wilson 2017: 7). Die Geschichte der Textilindustrialisierung ist eine Materialgeschichte, aufgeladen mit Erzählungen der sozialen Kontrolle und der Geschlechtertrennung. Zugleich instrumentalisiert, um nationale, kapitalistische und patriarchale Agenden zu stützen, aber auch, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die mehrdeutige Position des Materials und der Räume, die es durchschreitet, wird bereits in der frühen Industrialisierungsgeschichte deutlich. Die Spinning Bees in Neuengland waren Werkstätten, in denen sich Frauen gemeinschaftlich zum Weben und Spinnen trafen. Ursprünglich als Orte geschaffen, um die Arbeit der Weberinnen zu kontrollieren, entwickelten sie sich zu Räumen des weiblichen Protests. Im Rahmen ihrer eingeschränkten Mitwirkungsmöglichkeiten trafen sich die Frauen in Neuengland in genau diesen Räumen und verschafften sich durch das Textilhandwerk eine eigene politische Stimme. Um ihre Abhängigkeit von den britischen Kolonialherren zu untergraben, produzierten die Frauen Homespun-Stoffe (in Amerika hergestellte Textilien aus Baumwolle, Leinen und Wolle). Ein Materialboykott: Das Tragen von Homespun wurde zu einem Symbol des Protests gegen die Kolonialherrschaft.

Die Spinnstube, in der sich junge Frauen im ländlichen Deutschland vom 15. bis zum späten 17. Jahrhundert versammelten, um Garn zu spinnen (Doujak/Barker 2019: 167), hatte ebenso eine tiefgreifendere Bedeutung als die einer rein effizienten, produktionsorientierten Tätigkeit. Innerhalb eines größeren sozio-historischen Kontextes, in dem sich die Identität der Frau zunehmend zu der einer Hausfrau entwickelte, während gleichzeitig „häusliche“ Tätigkeiten wie die Textilarbeit aus der häuslichen Sphäre in den freien Markt gedrängt wurden (Stewart 2003: 143), war es ein Ort der wirtschaftlichen, aber auch der sexuellen Befreiung. Die Spinnstuben wurden zu Orten, an denen junge Frauen und Männer ihre Zeit abseits der ständigen, wachsamen Augen der kirchlichen Behörden verbringen konnten. Die spätere Einführung von Lichtherren, die diese sexuellen Ausschweifungen verhinderten, war die Reaktion auf den Kontrollverlust über die Frauen und den Ort ihrer Befreiung. Die Aneignung oder Umkehrung ursprünglicher Zwänge und traditioneller Konnotationen ist beispielhaft für die Mehrdeutigkeit der Textilarbeit und das, was diese Geschichten und Orte so zentral für einen Dialog über kollektive Textilarbeit macht.

In ihrer Einführung zu dem Buch FRAY: art + textile politics führt Julia Bryan-Wilson den Begriff der Textile Politics ein: „Textile Politics bedeutet, der Politik Textur zu geben, einfache Binaritäten zu verweigern und Komplikationen anzuerkennen: texturiert im Sinne von uneben, aber auch (...), im Sinne von spürbar bearbeitet und etwas von der Maserung dieser Arbeit beibehaltend, ob glatt oder zerknittert.“ (Bryan Wilson 2017: 7). Aufgeladen durch Geschichten der Doppeldeutigkeit kann kollektive Textilhandarbeit in sich eine Form des Widerstands darstellen, als eine Praxis, die lineare oder singuläre Erzählungen unterbricht und einen damit über nicht-binäre Denkweisen nachdenken lässt. Der Other Market, als Textilwerkstatt und offenes Experiment, ist aus der Auseinandersetzung mit Strukturen des kollektiven „Raumeinnehmens“ entstanden. Die Stunden des Dialogs und Austauschs bei Other Market schaffen einen Ort, bei dem es nicht um das Ergebnis und einfache Antworten geht, sondern darum, die Dinge möglicherweise umständlicher zu machen und Unebenheiten zu akzeptieren. Es ist ein Experiment, bei dem das Zusammennähen, Wiederauftrennen, Zuschneiden und Zusammensetzen als Mittel verstanden wird, um gemeinsam nachzudenken und zu hinterfragen. Die Verbindung des kollektiven Handwerkens mit Praktiken des Widerstands stelle ich nicht in der Erwartung her, damit Komplikationen und Ungerechtigkeiten zu lösen – das wäre übertrieben. Wenn man sich dennoch die Frage stellt, wie man Dingen gemeinsam eine andere Richtung geben kann, um in all ihrer Komplexität einen Unterschied zu machen, kann es hilfreich sein, Stich für Stich zu denken. Mit der Ausdauer und Geduld, die zum Nähen und Sticken erforderlich sind, um gemeinsam den Wert in den Unebenheiten und Zwischenbereichen zu erkennen.


Bryan-Wilson, Julia (2017) Fray: Art+Textile Politics, Chicago, The University of Chicago Press Doujak, Ines & Barker, John (2018), Loomshuttles, Warpaths 2010-2018, Leipzig, Spector Books Stewart, Alison G (2003), Distaffs and Spindles: Sexual Misbehavior in Sebald Beham's Spinning Bee, University of Nebraska at Lincoln, Faculty Publications and Creative Activity, School of Art, Art History and Design Watson, Grant (2012), In Conversation with Grant Watson, Natasha Ginwala (online), https://natashaginwala.com/2012/11/04/in-conversation-with-grant-watson/

Abb. 2
Abb 2. „PROTEST BANNER LENDING LIBRARY CHICAGO CULTURAL CENTER“, Protest Banner lending Library Project by Aram Han Sifuentes. Photo: eedahahm source: https://www.aramhansifuentes.com/activations/chicago-cultural-center
Abb. 3
Abb 3. „NAMES Project AIDS Memorial Quilt“ Photo: Carol M. Highsmith - Library of Congress Catalog: http://lccn.loc.gov/2011631696Image, download: https://cdn.loc.gov/master/pnp/highsm/13500/13502a.tifOriginal, url: http://hdl.loc.gov/loc.pnp/highsm.13502, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52097823