Kaorle Figur

Freiheit und Innenhöfe

Anton August Dudda · 2024-08-01

Aus heutiger Sicht ist es schwer vorstellbar, dass die von uns sogenannten „Altbauten“ in den Innenstädten großer Europäischer Metropolen dereinst von Architekten, Kulturkritikern und marxistischen Ökonomen als die steinerne Verwirklichung des Kapitalistischen Alptraums galten, als dystopische Fratze menschlichen Zusammenlebens nach der sprichwörtlichen Auflösung alles Stehenden und Ständischen. Grau, schmutzig, anonym, dunkel. Wir sind es stattdessen gewohnt, dass Gebäude wie diese kernsaniert auf einen zunehmend kapitalisierten Wohnungsmarkt geschleudert und für immer absurdere Preise an wohlständisches Kulturbürgertum, Spekulanten oder Betreiber halblegaler Ferienwohnungen vermietet werden. Wer mit einem kleinen Einkommen in den Genuss hoher Wände mit Holzdielen kommt, muss sich inzwischen glücklich schätzen.

Die Blockrandbebauung hatte sich Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, als im Zuge der Gründerzeit an den großen Europäischen Börsenplätzen ein bis dato beispielloser Optimismus herrschte und Kredite und dadurch Betriebsgründungen sehr günstig waren. In den Städten bildeten sich gigantische Produktionen, deren benötigter Zuzug von Arbeitskraft nur zu stemmen war, indem die verfügbaren Grundstücke bis hin zur absoluten Kapazitätsgrenze bebaut wurden. Niedriggeschossige Wohnhäuser mit großem Hinterhof, inklusive hauswirtschaftlicher Infrastruktur wurden verdrängt von hohen Mietskasernen mit ihren rudimentären Innenhöfen, während letztere ihre Existenz wohl eher den Bauvorschriften zum Feuerschutz, als die Sorge um ein Minimum an Lebensqualität zu verdanken hatten. Es war dennoch in diesen engen Innenhöfen, wo sich, geboren aus der allgegenwärtigen Gründerstimmung, diverse handwerkliche und dienstleistende Betriebe ansiedelten, die im ökonomischen Schatten der Großunternehmen, sowie im architektonischen Schatten der Mietshäuser allerlei Alltäglichkeiten produzierten und anboten, von denen es uns heute beinahe absurd vorkommen müsste, würden sie nicht in Fertigungshallen außerhalb der Stadt hergestellt. Schokolade, Brillen, Regenschirme, Bier oder Konserven beispielsweise. Es sind genau diese kleinen Schuppen, Manufakturen und Werkstätten, in denen sich heute, lange nach dem Übergang zum Spätkapitalismus, das abspielt, was man die Innenhofkultur nennen kann.

Wo immer sich die Struktur der Gesellschaft ändert, entstehen Lücken. Räume, die von der Logistik und Distribution des Alten losgelassen und vom Neuen noch nicht erfasst worden sind. Die Kunstwissenschaftlerin Annette Maechtel analysiert solche Räume unter dem Forschungsbegriff der Temporalität anhand des sehr plastischen Beispiels des Berlins der 1990er Jahre, das durch den Mauerfall und die Wiedervereinigung eine extreme Disruption in der Stadtentwicklung erlebte. In ihrem Buch „Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre“, betont sie, wie die anarchistische Mentalität der Akteure, die sich in den vielen freien Räumen des Ostteils der Stadt ansiedelten, entweder durch billige Vermietung, Zwischennutzung oder Besetzung, über die Jahre und durch den bürokratischen Zugriff der Stadtplanung in eine Art ideologisches Vorreitertum für neoliberale Paradigmen wie Flexibilität, Innovativität und Effizienz verkehrt wurde. Die zunächst als Wildwuchs und Chaos beschriebene Berliner Kultur der frühen 90er Jahre wandelte sich zu einem Unique Selling Point der in ihrer damaligen Form extrem jungen Stadt und übertrug das einst Subversiv-Politische ins Temporär-Projekthafte, was, so Maechtels These, die Stadt bis heute prägt.

Im kleineren Maßstab haben vermutlich alle, die schon einmal in einem Stadtteilprojekt mitgewirkt haben, sei es sozialer, künstlerischer oder politischer Art, eine solche Entwicklung erleben müssen. Räume oder Gebäude sind aufgrund einer Strukturveränderung frei geworden und günstig, freie Gruppen und Kollektive ziehen dort ein, finden ein gewisses Publikum und tragen zur lokalen Kultur bei, bis der bürokratische Zugriff, städtisch oder privat, einen Weg gefunden hat, die Räume einer effizienteren und zielgemäßeren Nutzung zuzuführen. Im besten Fall darf die Nutzung weitergehen, ist aber von nun an auf eine Kooperation mit der Lokalpolitik angewiesen, entsprechend institutionalisiert und damit, zumindest potenziell, seines subversiven Potenzials beraubt. Im weitaus häufigeren Fall muss die Gruppe ausziehen, sich neue Räume suchen, die höchstwahrscheinlich teurer und kleiner sind als die alten oder das Projekt muss aufgegeben werden. Hier kommt es dann zu einer ironischen Spiegelung der Verhältnisse aus der Gründerzeit. Durch den immer teurer und knapper werdenden immobilen Raum in den Innenstädten, werden all die noch übrig gebliebenen Winkel und Ecken, alle Schuppen, Scheunen und Bauruinen, die einst der aufgeblasene Industriekapitalismus nach seinen diversen Krisen zurückließ, in die Verwertungskette der Dienstleistungsökonomie eingegliedert und entlässt alle Akteure einer freien und subversiven Kulturarbeit in einen Kampf um immer engere Möglichkeiten und verdrängt damit langfristig genau das, was die Städte für den Zuzug der bürgerlichen Klasse erst so attraktiv gemacht hat. Vielfalt, Abwechslungsreichtum, Offenheit und Freiheit. Gute politische Arbeit kann diese Entwicklung bremsen, aber aufhalten nicht. Wirklich offener Diskurs und herrschaftskritisches Denken kann nur entstehen, wo sich die Subjekte einer Gesellschaft, zumindest temporär vor dem Zugriff genau dieser Herrschaftsverhältnisse sicher sein können und nur in genau in dieser Freiheit kann sich das reproduzieren, was Liberale so gerne eine „Offene Gesellschaft“ nennen und an deren Auflösung sie im gleichen Atemzug mitarbeiten, wenn sie sich der Erkenntnis verweigern, dass der Kapitalismus die Voraussetzungen für ihre demokratische Legitimität immer eher zerstören, als aufbauen wird. Die Künstler, Anarchisten, Kulturvereine und Jugendclubs müssen nun an den Stadtrand ziehen, dorthin, wo einst die Großindustrie die Struktur schuf. Ästhetisch sicherlich hochspannend, aber isoliert von den tagtäglichen Wegen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten der Innenstadt geht die Arbeit weiter, mit dem gleichen Fleiß, der gleichen Überzeugungen, aber nur noch zugänglich für jene, die die Zeit und Muße haben, die Anfahrten auf sich zu nehmen. So wird die durch permanent verfügbare Content- und Entertainmentmedien ohnehin bereits randständische Off-Kultur noch hermetischer.