Raum zum kollektiven Experimentieren, Aushandeln und Wachsen

Ich kenne Kollektiv Kaorle nun schon seit Jahren. Und beobachte begeistert, wie aus diesem erweiterten Freundeskreis mit Affinität für Musik, Kunst, Tischtennis und einer Töpferwerkstatt dieser offene Raum mit Angeboten für alle entstanden sind. Warum wir mehr solche Orte zum Experimentieren, Aushandeln und Lernen brauchen – gerade wegen multipler Krisen, Teuerung und Leerstand.
Ein Konzert spielen, ein Boot bauen, eine Werkstatt teilen, für 30 Menschen kochen, einen Workshop geben oder einfach nur Teilnehmen. Die Bandbreite an Projekten und Aktivitäten, die ich vom Kollektiv Kaorle und ihrem Freundeskreis schon miterleben konnte, ist riesig. Es ist so beeindruckend, was alles entstehen kann, wenn der richtige Raum zur Verfügung steht.
Auch beruflich beschäftige ich mit den kooperativen Nutzungsprojekten – ein Thema, das in meiner Arbeit bei Kreative Räume Wien, der Servicestelle für Leerstandsaktivierung und Zwischennutzung, eine zentrale Rolle spielt. Wir unterstützen Initiativen, die Räume für ihre Vorhaben suchen, vernetzen sie mit bestehenden Projekten oder unterstützen sie dabei, selbst einen eigenen Ort zu öffnen. Die Nachfrage nach leistbaren Flächen für kreative Räume in Wien ist enorm – nicht nur, aber vor allem auch langfristig.
‚Kreativ‘ ist in dem Kontext als ein weiter Begriff zu verstehen. Es geht um engagierte Initiativen, Projekte und Nutzungen, die sozial, kulturell oder gesellschaftlich in den Raum und über diesen hinaus in die Stadt hineinwirken. In Wien gibt es aktuell einige. Von Band-Proberaum im Souterrain, dem Kunst-Raum, dem Gartenprojekt in einer Baulücke, dem Kulturcafé bis zu den Räumen der Gebietsbetreuung, wo Workshops und Bewegungsangebote stattfinden können. Es sind alles Beispiele engagierter Initiativen, Projekte und Nutzungen, die soziale oder kulturelle Infrastruktur im Grätzl oder in unserer Stadt schaffen. Ihre Räume laden dazu ein, gemeinsam Zeit zu verbringen, Ideen und Ressourcen auszutauschen, zu Teilen und soziale Beziehungen aufzubauen. Manche haben den Fokus stärker auf das Ressourcen teilen, voneinander lernen, Pläne schmieden, bei anderen steht die künstlerische Produktion im Mittelpunkt.

Der konkrete Fokus und damit auch die Angebote der Projekte hängt dabei stark von dem verfügbaren Raum und den engagierten Menschen ab. Sie können so unterschiedlich sein wie es die Ziele und Interessen ihrer Beteiligten. Oft sind es jedoch Experimentierräume, in denen auch neue Formen des Zusammenlebens und Arbeitens ausgetestet werden und den Diskurs zur Frage öffnet, wie wir eigentlich Leben wollen. Eine gute Mischung von Nutzungen in einem Grätzl fördert unterschiedliche Ausdrucksformen, politische Meinungen und kulturelle Praktiken – unverzichtbar für eine Demokratie.
Gemeinsam Räume zu nutzen ist wichtig und richtig. Wien braucht mehr davon. Und das sag nicht nur ich und die wahrscheinlich 1000 Mitglieder und Konzert-Besucher:innen, die zum Lido kommen; in der Garage Grande Tischtennis spielen oder sich in der Fassfabrik in Liesing bzw. der Semmelweisklinik im Währing zur Jam-Session treffen.

In der Stadtplanung und Architektur sind Themen der nachhaltigen Nutzung von Bestand, Ressourcenteilen und die Bedeutung von zivilgesellschaftlich getragenen Räumen mittlerweile als Notwendigkeit anerkannt. Auch im neuen Stadtentwicklungsplan, der vor einer Woche beschlossen wurde, steht es drinnen: Gemeinwohlorientiere Nutzungen und Sharing Angebote gewinnen an Bedeutung. Die Rahmenbedingungen dafür sollen erleichtert werden und das Finden weiterer leistbarer Räume unterstützt werden.

Doch wo liegen in Wien die Potenziale? Steigende Preise erschweren die Suche nach langfristigen Räumen. Viele Projekte sind auf temporäre Zwischennutzungen beschränkt – sinnvoll, wenn Gebäude vor Sanierung oder Umbau leer stehen. Doch es braucht auch langfristige kreative Räume. Das wird mit wachsendem Nutzungsdruck in Wien zunehmend schwieriger.
Es gibt dieses bekannte Zitat, das da lautet: „Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später.” Wer es genau gesagt hat, ist, soweit ich weiß, nicht ganz geklärt. Manche vermuten, es war Karl Kraus, der die Stadt und ihre Bewohner vor rund 120 Jahren analysierte und dabei oft (treffend) scharf kritisierte. Zu seinen Lebzeiten hatte Wien so viele Bewohner:innen wie heute, aber viel weniger Wohnraum. Die schnell wachsende Millionenstadt war geprägt von extremer Wohnungsnot und sehr schlechten Lebensbedingungen für viele. In dieser Zeit – der Gründerzeit – entstanden unsere heutigen Altbauten, die unsere Stadt immer noch prägen. Die schönen, geräumigen mit Stuck belegten einerseits und die ‚Mietskasernen‘ für die Arbeiter:innenschaft. Eine Situation, die später den Boden für den sozialen Wohnbau des "Roten Wien" legte und Wien zur größten kommunalen Vermieterin in Europa machte. Und auch in den Bauten der Zwischenkriegszeit zeigt, wie wichtig das Einplanen von Nicht-Wohnnutzungen in die Gemeindebauten war. So wurde bei der Planung des größten Bau Wiens - bezogen auf die Einwohner:innen - der Sandleitenhof in Ottakring, ein Kino- und Theatersaal, ein Museum, eine Bibliothek mitgeplant. Die damaligen Top-Down Angebote werden heute vom Verein Soho in Ottakring selbstorganisiert bespielt.

Zurück zum Thema: Das Zitat mit dem Weltuntergang scheint sich in Bezug auf die Mietpreisentwicklung bewahrheitet zu haben. Während Städte wie London, Paris und Berlin schon länger von hohen Mieten betroffen sind, war Wien lange davon verschont. In den letzten Jahren hat Wien jedoch mit den Mietpreisen deutlich aufgeholt. Die Teuerung trifft in der EU aktuell kaum eine Stadt so stark wie Wien. Und das betrifft auch Erdgeschoss-Lokale, Gewerbeflächen, Gastronomie, Arbeitsräume und gemeinschaftlich organisierte Projekte – und die Kulturarbeit insgesamt.
Auch gerade deshalb sind die sogenannten Dritte Orte wichtig. Dritte Räume sind soziale Treffpunkte, an denen Menschen sich informell begegnen können: Cafés, Parks, Bibliotheken – aber eben auch Ateliers, Werkstätten oder ein Lido in Ottakring (oder Kollektiv Kaorle). Sie fördern Dialog, Austausch und soziale Netzwerke, die für eine lebendige Stadtgesellschaft so wichtig sind. Sie sind weder Zuhause noch der Arbeitsplatz. Doch was ist, wenn Kaffeehäuser immer teurer werden und die günstigen Bars um die Ecke schwinden und jedes Kellerlokal im Sinne der Profitmaximierung verwertet wird? Oder leer stehen gelassen, weil auf bessere Zeiten gehofft wird?
Wir brauchen mehr von den Möglichkeitsräumen. Sie fördern Austausch und konfrontieren uns mit anderen Perspektiven. Oft sind diese Nutzungen offen, niedrigschwellig und laden dazu ein, sich zu beteiligen. Aber es ist nicht einfach, sie aus den Logiken kapitalistisch geprägter Märkte rauszunehmen. Bereits im Winter 2020 (vor der Teuerung!) hat Christoph Laimer in dérive einen Text dazu geschrieben, der das Problem gut aufzeigt. Ich habe ihn unten verlinkt.

Trotz allem entstehen weiterhin Projekte. Beim Kollektiv Kaorle am Lido im Rahmen eines bevorstehenden Umzugs und organisiert von den vielen anderen Initiativen in dieser Stadt. Und das ist das, was ich so bewundere: Das Pläne schmieden, Ausprobieren und dann auch noch möglichst viele Menschen mit ins Boot holen. Immer wieder wurde mir bewusst, was alles möglich ist, wenn man gemeinsam Ideen sammelt, organisiert und umsetzt. Doch sich – wenn auch im kleinen Rahmen – gestaltend an der Gesellschaft zu beteiligen, ist keine Selbstverständlichkeit und auch nicht für alle möglich.
Und jetzt direkt an euch: Ihr habt es gemacht, Raum geschaffen, Raum zum kollektiven Experimentieren, Aushandeln und Wachsen. Ihr traut euch was. Ihr seid die Macher:innen. Ihr erntet Parkett, holt einen Mond von einem Dach und teilt euren Raum gerne auch mit zahlreichen Initiativen, die ihn temporär brauchen. Mal ganz abgesehen von dem Konzertprogramm und den hausinternen Workshops. Und davon profitieren alle, die zu euch nach Ottakring kommen.