Kaorle Figur

Wunschproduktion auf St. Pauli

„...eines Tages werden die Wünsche die Wohnung verlassen und auf die Strasse gehen...“ (Park Fiction 2016).
Paulina Gilsbach · 2024-10-01

Im Hamburger Stadtteil St. Pauli hat sich in den letzten Jahren eine besondere Form der Stadtentwicklung manifestiert: die Wunschproduktion.

Die Idee einer kollektiven Wunschproduktion wurde in Bezug auf stadtpolitische Prozesse erstmals 1995 durch das Nachbarschaftsprojekt Park Fiction markiert und geht der Frage nach, was die Menschen im Stadtteil eigentlich wollen. Doch auch in späteren Projekten auf St. Pauli, wie 2014 durch die Gründung der PlanBude im Kontext der Konflikte um die Esso-Häuser oder aktuell im Sommer 2024 durch die Aktivierung und Testung der Hafenkante ist die Idee der Wunschproduktion zentral. Allen Projekten gemein ist die Entwicklung neuer, durch Kunst geprägter Ansätze, wie Stadt anders geplant und gebaut werden kann:

„Es geht bei der kollektiven Wunschproduktion darum, neu zu bestimmen was die Stadt ist, darum, ein anderes Netz über die Stadt zu legen, sich die Stadt anzueignen, überhaupt sich vorzustellen wie es anders laufen könnte und dann das Spiel nach anderen Regeln zu spielen. Von der Stadtkonsumentin zur Stadtproduzentin werden. Die Hegemonie staatlicher und wirtschaftlicher Planungsinstanzen punktuell zu durchbrechen“ (Christoph in Czenki 1999: 15.20).

Um den Ursprung der Idee der Wunschproduktion und die dahinterstehenden Forderungen und Kritiken zu verstehen, braucht es ein wenig Kontext: was macht den Charakter des Hamburger Stadtteils St. Pauli aus?

Hamburg ist eine Stadt, die wie viele andere stark geprägt ist von der kapitalistischen Logik der Stadtentwicklung. Gleichzeitig hat Hamburg, vor allem auf St. Pauli, eine besondere Geschichte urbaner Kämpfe vorzuweisen, in denen sich Menschen für gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung einsetzen und für Orte, an denen Gemeinschaft gelebt werden kann.

Der Stadtteil in Hafennähe ist vor allem für sein Rotlichtviertel, den Kiez, die Reeperbahn und den FC St. Pauli weit über die Stadtgrenzen hinweg bekannt geworden. Das ehemalige Arbeiter:innen Viertel war lange Zeit proletarisch, arm, migrantisch und ist bis heute stark politisch links geprägt (vgl. Jörg et. al. 2023: 388). Mit einer Bevölkerungsdichte, die fast fünfmal so hoch ist wie der Hamburger Durchschnitt, zählt St. Pauli noch immer zu den am stärksten benachteiligten Vierteln der Stadt. Gleichzeitig ist der Kiez durch sein großes Angebot verschiedenster Vergnügungseinrichtungen stark touristisch geprägt.

Auf St. Pauli herrscht eine „Kultur der Kritik“ (Wieczorek 2005: 7): das von sozialen Gegensätzen, Gentrifizierung und politischen Auseinandersetzungen gekennzeichnete Viertel steht für das Ringen um einen selbstbestimmten Umgang mit Lebens-, Arbeits- und Wohnformen jenseits behördlicher Vorstellungen. Die Besetzungen der Häuser in der Hafenstraße in den 1980er Jahren und die darauffolgenden jahrelangen Kämpfe gelten als populäres Beispiel für ein Streben nach Autonomie und ein solidarisches Miteinander. Sie prägten viele weitere urbane Konflikte auf St. Pauli, wie beispielsweise die Prozesse um die Esso-Häuser oder um die Rote Flora im angrenzenden Schanzenviertel.

Das Projekt Park Fiction ist als Nachbarschaftsnetzwerk Mitte der 90er Jahre teilweise aus den Kämpfen um die Hafenstraße hervorgegangen und steht für den gelungenen Widerstand gegen die Bebauung des letzten freien Stücks Ufer an der Hafenkante. Während des jahrelangen Prozesses der selbstorganisierten Planung eines öffentlichen Parks wurde der Begriff der „kollektiven Wunschproduktion“ geprägt:

„Park Fiction hat das Ziel, eine für die Kunst wie für die Stadtplanung neue, intensive Form der Beteiligung in Gang zu bringen. Park Fiction will mobilisieren, Wünsche sammeln, koordinieren, vermitteln, teilweise realisieren und dokumentieren. Die AnwohnerInnen-Planung soll sich auf alle Bestandteile des Parks erstrecken. Aus ParkkonsumentInnen werden ParkproduzentInnen. Nicht der Künstler und seine Vorstellungen stehen im Mittelpunkt, sondern die kollektive Wunschproduktion im Stadtteil.“ (Park Fiction, 2016).

Anstatt des reinen Protests fanden auf der Fläche verschiedene kreative, spielerische und künstlerische Aktivierungstechniken statt, die von den Potentialen des Ortes ausgehen anstelle von dessen Mangel. Durch zahlreiche Aktionen und unterschiedliche unkonventionelle Planungswerkzeuge, wie Planungswerkstätten, Testnutzungen, Grillfeste, Einsatz von Knetmodellen oder Telefonhotlines sollen Visionen für zukünftige Orte erarbeiten werden und Wünsche der Bewohner:innen und Nachbarschaft artikulierbar und politisch verhandelbar gemacht werden. Ein „Raum der Gegensätze“ (Wieczorek 2005: 38) soll eröffnet werden, der die produktive Setzung des Individuums und seiner Wünsche fokussiert. Gleichzeitig wird durch die politische Konzeption der Wunschproduktion Kritik an herkömmlicher, bürokratisch-staatlich organisierter Partizipation geübt.

Ein frei zugänglicher Container, welcher den Ort markiert und als Anlaufstelle und Bibliothek oder „Wunscharchiv“ funktioniert ist nicht nur für Park Fiction, sondern auch für die Wunschproduktion der PlanBude und an der Hafenkante zentral (hier als umgebauter Klappwohnwagen). Es geht darum, präsent zu sein, vor Ort ins Gespräch zu kommen und so auch Gruppen in der Nachbarschaft zu erreichen, die sonst von anderen Beteiligungsformaten oftmals ausgeschlossen werden.

Stadtteilpolitische Auseinandersetzungen auf St. Pauli sind von vielen Kontinuitäten geprägt, welche sich beispielsweise durch Personen, Netzwerke oder bestimmte Begriffe zeigen. So kann Wissen aus Prozessen, Widerständen und Kämpfen weitergegeben werden: „Das sind so die persönlichen Kontinuitäten hier im Stadtteil. Der Begriff der Wunschproduktion schwebt hier so im Raum. Dann wurde in den Auseinandersetzungen um die Esso-Häuser das aufgegriffen, was es in den Kämpfen um Park Fiction schon gab, und damit begann der Frühling der Wunschproduktion.“ (Jörg 2024)

Aus den Energien und Strategien von Park Fiction ging die PlanBude hervor, welche sich als transdisziplinäres und unabhängiges Planungs-Büro gründete, um die Forderungen nach ernsthafter Beteiligung und die Wunschproduktion für die damals geplanten neuen Esso-Häuser in Hamburg St. Pauli durchzuführen (vgl. PlanBude 2020). Der Verkauf und drohende Abriss der charakteristischen Esso-Häuser der 1960er Jahre an der Reeperbahn bildete 2009 den Ausgangspunkt langjähriger stadtteilpolitischer Auseinandersetzungen. Als zentraler und bedeutender Ort des Zusammenkommens für Bewohner*innen und den Kiez, so wie Menschen aus ganz Hamburg, erhielt die namensgebende Tankstelle Kultstatus (vgl. Jörg et. al.: 2023: 387). Die „Initiative Esso-Häuser“ schaffte es mit großer Unterstützung und Solidarität aus dem Stadtteil und einer breiten kritischen Öffentlichkeit, den schnellen Abriss zu verhindern und einen politischen Diskurs zu eröffnen. Auf die Evakuierung und den Abriss der Häuser folgten zahlreiche Demos, Aktionen, Verhandlungen und Stadtteilversammlungen, wodurch Druck auf die Politik ausgeübt werden konnte und schließlich die PlanBude initiiert wurde. Im Zuge der Wunschproduktion wurden über ein halbes Jahr hinweg über 2.300 Beiträge, Ideen und Wünsche gesammelt, die dann in konkrete Planungen für das zu entwickelnde Quartiert überführt wurden.

Für ihren außerordentlichen partizipativen Prozess erhielt das Team weitreichende öffentliche Aufmerksamkeit. Die gemeinsam erarbeiteten Pläne durch PlanBude, Initiative, Nachbarschaft, Verwaltung und Politik wurden jedoch leider nie umgesetzt. Auch heute noch, 10 Jahre nach dem Abriss der Esso-Häuser, findet sich an diesem Ort eine umzäunte Brachfläche.

„Gemeinsam testen wir einen Freiraum der Zukunft“

Anknüpfend an die Wunschproduktion des Park Fiction Komitees, die im Sommer 2020 mit dem Titel „Die Füße in die Elbe strecken“ begannen, Wünsche und Ideen der Nachbar*innen zu sammeln, wurde diesen Sommer die Hafenkante durch UVM und das projektbüro auf die Probe gestellt. So wird aktuell ein kollaborativer Prozess für die Neuplanung der Hafenkante zwischen Fischmarkt und Landungsbrücken erarbeitet. In 1:1 Testsituationen wurden im August und September getestet, was die Hafenkante so kann und die Idee der Wunschproduktion fortgeführt (vgl. UVM).

Hamburg grüßt Wien!

Czenki, Margit (1999): Park Fiction - die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Strasse gehen. BRD, 16 mm, 61 min. Buch / Regie/ Montage: Margit Czenki, Texte:Christoph Schäfer, Kamera: Martin Gressmann und Margit Czenki, Musik: Ted Gaier und Schorsch Kamerun.

Jörg, Steffen (2024): Persönliches Interview, 18.07.24.

Jörg, Steffen et. al. (2023): 23. Eine andere Stadtplanung ist möglich!. Der Konflikt um die Esso- Häuser. In: Monika Grubbauer & Joscha Metzger (Hrsg.), Wohnen in Hamburg (387-400). Transcript Verlag. Bielefeld.

Park Fiction (2016): Kollektive Wunschproduktion und das Recht auf Stadt. (letzter Aufruf 26.09.24: https://park-fiction.net/kollektive-wunschproduktion/).

PlanBude (2020): PlanBude-Intro: Knack‘ den St. Pauli Code! (letzter Aufruf 25.09.24: https://planbude.de/planbude-intro/).

UVM (o.A.): Qualifizierung der Hafenkante. (letzter Aufruf 25.09.24: https://uvm.group/project/qualifizierung-der-hafenkante/).

Wieczorek, Wanda (2005): Park Fiction. Analyse eines selbstorganisierten Planungsprozesses zwischen Kunst, Gemeinwesenarbeit und Urbanismuskritik in Hamburg-St. Pauli. Universität Lüneburg.